Ich bin’s nicht – die Partei ist es gewesen!

LiquidFeedback (LF) ist nun bundesweit in der Piratenpartei gestartet als Werkzeug für Meinungsbilder. Der Hauptkritikpunkt an LF war meiner Wahrnehmung nach die Tatsache, dass die Abstimmungen dort nicht geheim sind. Die Meinung jedes Nutzers ist somit öffentlich bei jeder Initiative, die er stellt oder an der er selbst mit abstimmt. Kritiker sehen darin das Problem,

  • dass Nutzer durch den möglichen öffentlichen Druck sich nicht frei entscheiden könnten und
  • dass Nutzer, die von anderen Menschen abhängig sind, von diesen gezwungen werden könnten, auf eine bestimmte Weise abzustimmen.

Kurzum, durch die fehlende Geheimheit der Wahl würden Nutzer in ihren Entscheidungen unfrei und erpressbar.

Ich möchte hier beschreiben, warum

  • Erpressbarkeit – wenn sie existiert – ein gravierendes Problem an sich ist
  • die Mitwirkung von Menschen an Entscheidungen, die andere Menschen betreffen, öffentlich sein muss.

Die öffentlichen Abstimmungen in LF sind zunächst einmal technisch begründet, da es unmöglich ist, einen Wahlcomputer zu konstruieren, der geheime und gleichzeitig nachvollziehbare Wahlen ermöglicht.

Pseudonyme helfen nicht

Um die Effekte der fehlenden Geheimheit etwas auszugleichen, erlaubt LF die Nutzung von Pseudonymen. Doch schützen diese nicht vor Erpressbarkeit. Ein Erpresser kann – wenn er schon die Mittel hat, einen Nutzer zu einer bestimmen Abstimmung zu zwingen – ihn auch dazu nötigen, seinen Klarnamen zu benutzen. So kann er dann auch feststellen, ob der Erpresste in seinem Sinne abgestimmt hat.

Erpressbarkeit ist ein Problem an sich

Anders als bei konventionellen Papierwahlen kann also eine Abstimmung in LF durch Erpressung beeinflusst werden. Allerdings ist Erpressbarkeit nicht nur ein Problem bei öffentlichen Abstimmungen. Wer erpressbar ist, muss auf viele Grundrechte verzichten: auf Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit. Er muss im schlimmsten Fall nicht nur verzichten, sondern sogar Dinge gegen seinen Willen tun.

Wenn also Menschen erpressbar sind und wenn es sogar soviele sind, dass Mehrheitseintscheidungen davon maßgleblich beeinflusst werden können, dann haben wir sowieso ein großes Problem. Und das Problem müssen wir generell lösen.

Mittel gegen Erpressbarkeit

Erpressbarkeit aufgrund finanzieller Abhängigkeit von Arbeitgeber oder Familie ließe sich z.B. durch ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) lösen. Katja Kipping von der Linkspartei nennt ja das BGE auch gern Demokratiepauschale und meint damit, sich ein Zeitungsabo oder Zugtickets zu Demos leisten zu können. Es könnte aber auch diese viel grundlegendere Funktion haben. Die Idee sollte uns nicht fremd sein: Schon heute erhalten Abgeordnete ein bedingungsloses Grundeinkommen, genannt Diät, um frei nach ihrem Gewissen öffentlich abstimmen zu können.

Erpressbarkeit aufgrund emotionaler Abhängigkeit, also z.B. Angst vor sozialer Isolation könnte durch Förderung von Sozialkompetenzen vermieden werden. Das wäre sowieso ein wichtiges Ziel einer emanzpierten Gesellschaft. Gleichzeitig führt Ausbreitung des Netzes und Sozialer Netzwerke zu einer besseren Wahrnehmung unterschiedlicher Menschen und Ansichten. Egal, wie abwegig meine Meinung ist – im Netz kann ich immer jemanden finden, der sie auch hat. “Allein dastehen” wird zu einer bloßen Redensart. (Das sollte übrigens jeder bedenken, der soziale Isolation bewußt als Mittel zur Bekämpfung von Gegnern anzuwenden versucht.)

Natürlich ist vieles hiervon noch Zukunftsvision, aber das ist ja auch Liquid Democracy als Prinzip bei allen gesellschaftlichen Entscheidungen. Daher ist es nicht falsch, wenn LF vorerst nur unverbindliche Meinungsbilder benutzt wird und endgültige Entscheidungen auch in geheimer Abstimmung möglich sind – wie es auch die über LF auf dem Piraten-Parteitag war.

Problem geheimer Abstimmung

Aber ich weiß nicht, ob allen klar ist, dass geheime Entscheidungen auch Probleme mit sich bringen:

Stellen wir uns einmal vor, es gibt zwei Anträge A und B und alle, die sich öffentlich äußern, sprechen sich für A aus – in geheimer Abstimmung gewinnt aber B. Was soll nun geschehen? Die Verantwortlichen für die Umsetzung können nun entweder zurücktreten oder B umsetzen – dabei aber ständig darauf hinweisen, dass sie ja eigentlich A wollen, aber leider nicht anders können. Sie setzen etwas um, übernehmen aber nicht die Verantwortung dafür. Ebenso können alle Parteimitglieder behaupten, natürlich für A gewesen zu sein – es kann ja niemand nachprüfen.

Am Ende trägt niemand die Verantwortung. Kommt uns das nicht aus der großen Politk bekannt vor?

Einfluss verlangt Verantwortung

Wenn Menschen Dinge tun, für die sie nicht verantwortlich sein wollen, beginnt alles Böse. Es mag noch gehen, wenn es Dinge sind, die nur sie selbst betreffen. Aber es ist fatal, wenn diese Dinge auch andere betreffen.

Daher müssen Menschen, die an Entscheidungen mitwirken wollen, die andere betreffen, dafür auch Verantwortung übernehmen. Dazu muss öffentlich sein, ob und wie sie an den Entscheidungen mitgewirkt haben.

Privatsphäre fürs Private

Ist das also die Vision: Der gläserne Bürger, der alle seine Ansichten offenbaren muss? Nein.

Ich kann der Meinung sein, dass alle Menschen gelbe Hüte tragen sollen. Das muss ich auch niemandem sagen. Wenn ich aber daran mitwirken will, dass ein Gesetz entsteht, was allen Menschen das Tragen gelber Hüte vorschreibt, dann muss meine Mitwirkung daran öffentlich werden. Genau hier verläuft die Grenze zwischen Politik und Privatsphäre. Politik gehört in die Öffentlichkeit, Privates in die Privatsphäre.

11 thoughts on “Ich bin’s nicht – die Partei ist es gewesen!

  1. Stefan

    BGE ist ne tolle Sache, aber auf individuelle Wahlentscheidungen mit fragwürdigen Mitteln Einfluss zu nehmen, ist nicht alleine über finanzielle Erpressbarkeit möglich, sondern auch über das Angebot von Privilegien (wie bei Korruption). Und solche Situationen werden sich nie ganz abschaffen lassen, weil in der Gesellschaft immer ein Macht/Privilegien-Ungleichgewicht existieren wird. Daher ist das Grundeinkommensargument ziemlich schwach und es wirkt eher so als wenn du zwei eigentlich unabhängige Sachen, die du toll findest, zwanghaft versuchst zusammenzubringen.

    Das andere, was ich ja schon geschrieben hatte, ist diese Schwammigkeit von “Verantwortung”: Wenn du meinst, diese Art der Verantwortung führt zu einer anderen Entscheidung bei der Wahl, dann ist Verantwortung eigentlich auf gleicher Ebene wie Erpressung, gegen die du aber im vorherigen Absatz argumentierst (beides beeinflusst möglicherweise eine Wahlentscheidung weg vom eigenen Willen). Daher ist die Argumentation schon in sich nicht schlüssig.

    Nur, weil es momentan technisch aussichtslos scheint das Wahlgeheimnis bei LF/Liquid Democracy irgendwie beizubehalten, würde ich dieses Manko nicht als Feature umdeuten.

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  2. Stefan

    Neue Mitstreiter bei der CDU: “Es könne nicht sein, dass sich Bürger hinter selbstgewählten Pseudonymen versteckten und sich so der Verantwortung entzögen, sagte der Karlsruher Abgeordnete den Badischen Neuesten Nachrichten.”

    http://bit.ly/9zYFA4

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    1. Georg Post author

      Es gibt einen Unterschied zwischen “Meinung äußern” und “Entscheidung mittreffen”. Letzteres hat direkte Konsequenz.

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      1. Stefan

        Einerseits gehts ihm ja darum: <>

        Und andererseits würde ich “Entscheidung treffen” als Spezialfall/Teilmenge von “Meinung äußern” sehen.

      2. Stefan

        : Für den demokratischen Entscheidungsprozess sei es wesentlich, “dass man mit offenem Visier kämpft, also seinen Klarnamen nennt”, sagte Fischer.

        Also diese obskure “Verantwortungs”-Argumentation ist find ich genau dieselbe.

      3. Georg Post author

        Und andererseits würde ich “Entscheidung treffen” als Spezialfall/Teilmenge von “Meinung äußern” sehen.

        Nee, da ist für mich ein zentraler Unterschied, den ich auch im letzten Absatz meines Artikel beschreibe.

        Wenn man Fischers Forderung überträgt, müsste er ja auch für Namensschildpflicht in der Öffentlichkeit sein.

        Außerdem fänd ich auch grad interessant, was er über Namensschilder für Polizisten denkt.

  3. Stefan

    Wenn öffentlich abgestimmt wird, und jeder sehen kann, wie ich gestimmt habe, dann ist das damit gleichzeitig eine Meinungsäußerung. Wenn du dem widersprichst, würde es heißen, dass ich nicht so abstimme, wie meine Meinung ist ( – was ja auch tatsächlich meine Position ist, was eine Gefahr an solchen öffentlichen Abstimmungen sein könnte). Dein letzer Absatz sagt höchstens aus, dass “Meinungen haben/äußern” eine _echte_ Obermenge von “Entscheidung treffen” ist (die Differenzmenge ist die Privatsphäre und so).

    Er würde vermutlich sagen, die Beamten handeln ja nicht von sich aus, sondern auf Befehl und hätten daher keine Namensschilder nötig.

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  4. Georg Post author

    Wenn du dem widersprichst, würde es heißen, dass ich nicht so abstimme, wie meine Meinung ist

    Ja, das kann eben durchaus sein – wenn ich z.B. finde, dass alle gelbe Hüte tragen sollen, aber eben nicht die Verantwortung für ein solches Gesetz übernehmen möchte.

    Ich finde, dass nach inhaltlichen Entscheidungen klar sein sollte, wer sie befürwortet – sie also mitverursacht hat – und wer nicht.

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