Post-Privacy vs. Privatsphäre – was ist die schönere Utopie?

Das Spiegel-Online-Interview mit Julia Schramm (laprintemps) ist ja mal ein guter Anlass, meine Gedanken zu Post-Privacy aufzuschreiben.

Ich will mit einem Gedankenexperiment anfangen: Nehmen wir an, wir haben einen guten Freund, der homosexuell ist und in einem Land lebt, wo das nicht gesellschaftlich akzeptiert ist. Unser Freund lebt dort also seine Sexualität bislang nur im Verborgenen aus.

Wie würden wir diesem Freund nun am besten helfen? Ich vermute, wir würden ihn zunächst durchaus dabei unterstützen, seine Homosexualität privat zu halten, vielleicht ein Webportal mit verschlüsselter Kommunikation für ihn und andere Homosexuelle einrichten, damit sie ihre Sexualität trotz Repressionsgefahr dennoch ausleben können.

Wir würden ihn aber ganz sicher auch dabei unterstützen, dass langfristig die Gesellschaft in seinem Land toleranter wird. Wir würden Demonstrationen und Paraden zum Christopher Street Day mitorganisieren und hinfahren, gegen homophobe Politiker protestieren – alles mit dem Ziel, dass unser Freund irgendwann ohne Angst Hand in Hand mit seinem Partner auf der Straße laufen kann, dass also seine Homosexualität nicht mehr in seiner Privatsphäre bleiben muss. Denn die Sexualtität offen ausleben zu können macht den meisten mehr Spaß als es im Geheimen und in Angst tun zu müssen.

Und jetzt frage ich mich: Wenn wir uns bei Homosexualität dafür einsetzen, dass sie gesellschaftlich akzeptierter wird und nicht mehr nur im Verborgenen ausgelebt werden kann, warum tun wir das nicht auch bei anderen Dingen, die in unserer Gesellschaft bislang nicht toleriert werden? Dinge, die viele deswegen bislang nur im Privaten tun.

Ich denke, dass eher die Notwendigkeit von Privatsphäre das Problem ist. Nämlich ein Zeichen dafür, dass es an Toleranz fehlt. Diese Notwendigkeit sollte bekämpft werden.

Wie schon oben gesagt: Kurzfristig ist es durchaus sinnvoll, Privates schützen und anderen dabei zu helfen, aber als langfristiges Ziel steht doch eine Gesellschaft, in der eben keine Nachteile daraus entstehen, wenn man Privates öffentlich macht. (Wer dann dennoch manche Dinge privat halten will, soll das natürlich auch tun dürfen.)

Und wie erreicht man so eine Gesellschaft? Wenn wir in die Geschichte schauen, dann offenbar auch durch gezielte Outings anfangs mutiger Einzelner, siehe eben den ursprünglichen Christopher Street Day oder auch das EmmaStern-Titelblatt zu Abtreibung von 1971 – also durch das offensive Aufgeben der eigenen Privatsphäre. Denn wenn selbst mein Friseur schwul ist und meine Lieblingsschauspielerin abgetrieben hat, fällt es mir schwerer, das schlecht zu finden. Ich vermute, kaum jemand würde beide heute “Spackos” nennen.

Siehe auch: Die datenschutzkritische Spackeria

19 thoughts on “Post-Privacy vs. Privatsphäre – was ist die schönere Utopie?

  1. Christoph B.

    Privatsphäre aufgrund fehlender Toleranz ist allerdings nur ein Aspekt und ich gebe deiner Ansicht hier durchaus recht.

    Was ist allerdings, wenn die Krankenversicherung dich nicht aufnimmt, weil sie weiß, dass du an einer (für die KV) teuren Krankheit leidest?

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  2. Georg Post author

    Wenn eine Krankenversicherung dich wegen bestimmten Krankheiten nicht aufnehmen will, dann hilft Privatsphäre evtl. bei Krankheiten, die man Dir nicht ansieht. Was aber, wenn Du blind bist oder bettlägrig oder einen stark verkrümmten Rücken hast etc.?

    Das Problem muss wohl anders als mit Privatsphäre gelöst werden, z.B. mit einem allgemeinen Grundrecht auf Krankenversicherungsschutz. Auch hier ist die Notwendigkeit von Privatsphäre offenbar nur ein Symptom eines tiefer liegenden Problems.

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    1. Christoph B.

      Richtig, ein Grundrecht auf Krankenversicherungsschutz würde dies auflösen. Die Krankenversicherung ist Teil des Solidarsystems. Alle zahlen ein, damit im Ernstfall jedem geholfen werden kann. Eigentlich sollten Krankenversicherungen gar keine kommerziellen Interessen haben.

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  3. Tja

    Was macht Dich so sicher, dass wir den Zustand der Freiheit den wir jetzt haben auch noch in 20 Jahren haben? Wer sagt denn, dass das was heute toleriert wird nicht schon morgen unter Strafe steht?

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    1. Georg Post author

      Gute Frage. Sollten wir jetzt also lieber im Verborgenen schwul sein, aufhören unsere politische Meinung zu bloggen und nicht mehr auf Demonstrationen gehen (wir könnten ja auf Fotos landen, die nachher gegen uns verwendet werden)?

      Würde es das leichter oder schwerer machen, diese Dinge morgen unter Strafe zu stellen?

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  4. Fabio Reinhardt

    Hallo Georg,
    vielen Dank für den Blogpost, der mir sehr gefällt. Ich denke auch, dass wir grundsätzlich (notfalls langfristig) viel mehr Dinge von der gesellschaftlichen Diskriminierung und Verurteilung befreien müssen. Ich würde gerne kurz auf das Beispiel mit der Krankenkasse, die teurer wird, wenn man Vorerkrankungen hat und sie das herausfinden. Ich finde, man sollte sich immer ins Gedächtnis rufen, dass es Dinge in unserer Gesellschaft gibt, die komplett solidarisch institutionalisiert sind. Ich zahle ja auch keine Extra-Polizei-Steuer, wenn ich in einer gefährlichen Gegend wohne und auch keine Extra-Feuerwehr-Steuer, wenn ich eine Wohnung aus Holz statt aus Stein bewohne. Genauso sollte es eigentlich auch mit der Krankenversicherung sein und ist es ja auch bei der Gesetzlichen.

    Insofern: Ja, es gibt konkrete Nachteile, wenn man bestimmte Dinge über sich preisgibt (und niemand sollte dazu gezwungen werden), aber bei all diesen Dingen sollte man sich zuallererst fragen, wie man eine Gesellschaft so organisiert, dass dies nicht mehr passiert und bei denen, bei denen uns keine Lösung einfällt, überlegen, wieso das so ist.
    Cheers,
    Fabio

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  5. Stefan

    Du (Georg) argumentierst am Thema vorbei. Dagegen, dass die Gesellschaft natürlich so tolerant wie möglich sein sollte, sagt keiner der Post-Privacy-Skeptiker was. Das Thema Homosexualität ist in dem Zusammenhang als Vergleich ziemlich unpassend; es geht nicht nur um Toleranz. Homosexualität an sich stellt keine Schwäche dar, die von anderen zum Nachteil dieser Person Ausgenutzt werden kann. Der Grund, warum Outings problematisch sind, ist allein die gesellschaftliche Missachtung von Homosexuellen auf Basis von irgendwelchen unsinnigen Werte-/Moralvorstellungen.
    Das Beispiel mit der Krankenversicherung ist da viel passender – natürlich kann man dem konkreten Punkt entgegnen, dass das Versicherungssystem korrigiert werden muss. Aber es wird immer auch andere Informationen über einen Menschen geben, deren Veröffentlichung ihm Nachteile bringen wird, wenn sie von anderen ausgenutzt werden.
    Das kann sowas sein wie, der Räuber weiß, dass ich nicht Zuhause bin und bricht bei mir ein. Mein Arbeit-/Auftraggeber weiß, wie viel ich vorher/woanders verdient hatte und ich bin in einer viel schlechteren Verhandlungsposition. Die Werbebranche kennt meine Schwächen für bestimmte Produkte und nutzt diese noch viel gezielter aus…

    Man kann nun natürlich versuchen, gegen Kriminalität vorzugehen und den Kapitalismus abzuschaffen, aber es wird nie komplett verhinderbar sein, dass Menschen Schwächen anderer Menschen zu ihrem Vorteil ausnutzen können (siehe Martin Wilkes Anti-Anarchie Text “über die Unmöglichkeit, Herrschaft abzuschaffen”).

    Solange die Leute es selbst bestimmen können, ob sie Daten über sich preisgeben, ist es mir auch alles egal. Aber dass sie von Institutionen dazu gezwungen werden oder sich dem nicht entziehen können darf nicht sein.

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    1. Georg Post author

      Ich weiß nicht, wo es von Post-Privacy-Befürwortern mal geheißen haben soll, dass Menschen “von Institutionen dazu gezwungen werden” sollen, ihre Daten preis zugeben “oder sich dem nicht entziehen können” sollen. Ich fände das absolut falsch und bekämpfenswert.

      Es ist aber genauso falsch, absoluten Datenschutz als einzige Lösung zu propagieren und jene vor möglichen bösen Konsequenzen zu warnen, die nicht ihre Privatsphäre schützen – was m.E. viele Datenschützer tun. Denn viele dieser Konsequenzen sind wie schon geschrieben nur Symptome tieferliegender Probleme, die direkt gelöst werden müssen.

      Klar, es mag sein: “es wird immer auch andere Informationen über einen Menschen geben, deren Veröffentlichung ihm Nachteile bringen wird, wenn sie von anderen ausgenutzt werden.” Genauso wie auch in einer Demokratie, wo alle gleichberechtigt sein soll, manche Menschen durch bestimmte Komptenzen oder Fügungen immer Vorteile gegenüber anderen haben. Aber dennoch ist Gleichberechtigung eine gute Utopie, die viele teilen und zu deren Verwirklichung sie beitragen wollen – auch wenn das nie ganz realisiert wird.

      Genauso sehe ich auch Post-Privacy: Als (vielleicht nie ganz realisierbares) Ziel, dass niemand die Notwendigkeit verspürt, Dinge privat halten zu müssen und seine Persönlichkeit – wenn er will – auch öffentlich entfalten kann.

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      1. Stefan

        Selbstverständlich ist eine Gesellschaft, in der Datenschutz / Recht auf Privatsphäre hinfällig wäre, erstrebenswert. Aber:

        1. wird das nie komplett umsetzbar sein, wie ich bereits schrieb. Es ist also nur eine Idealvorstellung an die man sich annähern kann. Daher ist Recht auf Privatsphäre und Datenschutz immer notwendig.

        2. darf der Weg, um dieses Ziel zu erreichen, nie der sein, Leuten entsprechende Rechte abzusprechen – in diese Richtung geht aber deine Argumentation. Es ist OK/egal den Leuten zu sagen “steht doch mal öffentlich zu euren Schwächen”. Aber es wäre falsch ein entsprechendes Gesetz zu erschaffen, was alle zum offenlegen zwingt(*). Gesetze verabschieden ist aber das einzige, was man konkret im politischen Rahmen fordern kann.

        Daher ist für mich eine “Post-Privacy-Gesellschaft” vielleicht auch ein nettes Ideal, aber wenn es keine gangbaren Wege gibt, die zu ihr führen als politische Forderung abzulehnen bzw. irrelevant.

        Kommunismus ist vielleicht auch ne nette Sache, aber sofern (anscheinend) der einzige Weg dorthin nur mit Unterdrückung verbunden zu sein scheint, lehne ich es ab ihn einzuschlagen.

        (*) Deine Post-Privacy-Argumentation ging ja sonst immer in die Richtung “Wenn von allen alles offengelegt ist, herrscht Waffengleichheit.” – aber genau so ist es eben nicht, weil manche tatsächliche konkrete Nachteile/Schwächen im Vergleich zu anderen haben.

  6. Georg Post author

    @Stefan: Also ich betone, wie schon im anderen Kommentar und im Artikel selbst: Jeder soll immer das Recht haben, persönliche Dinge über sich geheim zu halten.

    Ich selbst habe nie ein Gesetz gefordert, dass Menschen zum Offenlegen privater Dinge zwingen soll – und ich kenne auch keinen Post-Privacy-Befürworter, der sowas tut. (Womöglich ist genau das das große Missverständnis über Post-Privacy…)

    Du schreibst, dass du Post-Privacy für so utopisch hälst, dass es keinen gangbaren Weg dahin gibt und man es deshalb gleich ablehnen soll. Nun, ich finde, sind schon längst auf dem Weg dahin: Schauen wir uns doch mal die enorme Vielfalt von Lebensentwürfen an, die heutzutage in westlichen Großstädten gelebt werden und vergleichen sie mit denen von Dörfern von vor 100 Jahren. Der Korridor ist doch krass breiter geworden. Mit dazu beigetragen hat m.E. die größere Sichtbarkeit von speziellen Lebensentwürfen und damit die steigende Toleranz – die sich beide gegenseitig bedingen.

    Und einen ziemlichen Boost erlebt das ganze jetzt eben auch durch das Netz: Mit nur wenigen Klicks kann ich mitkriegen, dass “ganz normale” Leute sehr krasse Meinungen oder sehr besondere Vorlieben haben können.

    Niemand wird dabei gezwungen, etwas offenzulegen. Die Leute tun es denoch, weil ihnen daraus offenbar andere Vorteile entstehen.

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    1. Stefan

      Ich habe nicht gesagt, dass ich die Idee an sich ablehne, sondern “Post-Privacy” als politische Forderung. Es ist eine Sache, die nur von den Menschen selbst ausgehen kann und nicht von außen aufgedrängt werden sollte. Bei den positiven gesellschaftlichen Änderungen die du nennst war das so. Aber sowas wie ELENA, Videoüberwachung und heimliche Auswertung von EC-Daten trägt in keiner Weise dazu bei und deswegen wird es nach wie vor enorm wichtig sein an Datenschutz festzuhalten und solche Probleme anzuprangern.

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  7. Tirsales

    Ja, die Gesellschaft muss flexibler werden und sie muss lernen, dass es unterschiedliche Menschen gibt. Das ist aber völlig unabhängig von der Existenz der Privatsphäre.

    Aber: Das bedeutet noch lange nicht, dass wir keine Privatsphäre mehr brauchen. Was ist, wenn ich bestimmte Dinge nicht veröffentlichen WILL? Nicht weil ich Repressalien befürchte – sondern weil ich keine Lust dazu habe?

    Privatsphäre hat für sich einen Wert. Sie abzulehnen bedeutet Menschen in ihrer Freiheit massiv einzuschränken.

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  8. fasel

    zum Stichwort “Weg zur Post-Privacy”:
    Der Punkt ist, dass, nach Ansicht der meisten PP-Anhänger, ein Zwangs-Datenouting gar nicht nötig ist. Die zunehmende Vernetzung der Gesellschaft bringt uns letztendlich dahin. Während der Kommunismus versucht wurde brutalst zu erzwingen, ist die Entwicklung Richtung PP ein Selbstläufer. Diese Entwicklung muss man sich bewusst machen und dann überlegen wie ein sinnvoller Umgang damit aussieht. Die aktuellen Datenschutzgesetze erzeugen jedenfalls immer stärker werdende Schmerzen, weil sie versuchen sich einer Entwicklung in den Weg zu stellen.
    Die Gefahren sind zweifelhaft und die Chancen groß, zumindest aus meiner zukunftsoptimistischen Sicht.

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    1. Stefan

      @fasel: Beziehst du dich auf das BDSG? Welche konkreten Aspekte meinst du, die anders sein sollten um einen Weg Richtung “Post-Privacy” zu begünstigen?

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      1. fasel

        ich kritisiere konkret einige aktuelle Entwicklungen:
        – angebliche Personenbezogenheit von IP-Adressen
        – EU-Cookie-Richtlinie
        – Radiergummi-Idee

        und halt die Diskrepanz zur Realität in der Diskussion einer “Privatsphäre im Netz”, da wiegt man sich in falscher Sicherheit und stellt falsche Ansprüche an Regulierung

    1. Stefan

      @fasel: Jo… Die Themen, die du aufzählst, sind eher typische Politiker-Fails, die wohl aus Unkenntnis und Kontrollwahn entstehen und korrigiert werden sollten. Aber ich seh darin keinen Zusammenhang zu dem, was Georg schreibt (Leute zu ermutigen/drängen Persönliches über sich preiszugeben).

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      1. fasel

        ich sehe diese “Fails” als eine Linie der Entwicklung, die zum Teil von Datenschützern mitgetragen wird, zumindest wird ihr nicht klar entgegengetreten.
        Dann gibt es noch die Linie der vernetzen Gesellschaft Richtung Post-Privacy.
        In wie weit die sich tangieren, kann man drüber streiten. Ich sehe da einen Zusammenhang, zumindest auf mittel- und langfristiger Sicht.

  9. Robert Ulmer

    Interessantes Thema,

    was soll “privat” belieben?
    Ist meine Entscheidung, manche privaten Dinge nicht öffentlich zu machen, “ein Zeichen dafür, dass es an Toleranz fehlt”?

    1. Manchmal nicht: Es ist richtig, die Intimsphäre eines Beteiligten (eines Liebespartners) zu schützen. Insofern gibt es Dinge, die die Dritten nichts angehen. (Hier die doppelte Bedeutung des Wortes “intim”.)

    2. Es kann vorkommen, dass ich etwas “geheim” halte, weil ich es mir nicht zerreden lassen will. Das können klassischer Weise sexuelle Phantasien sein, aber z.B. auch das Vorhaben, einen Roman zu schreiben. Nur: ist die Gefahr, dass etwas “zerredet” wird, eine reale Gefahr?

    3. Um die Welt zu verbessern, ist es wichtig, sich zu “outen”, vor allem, wenn ein Risiko dabei ist. In Russland ist es riskant, als Mann Männer zu lieben (und was immer man berechtigter Weise man gegen die Grünen hat: es ist gut, dass Volker Beck auf die CSD-Demos in Russland und Polen fährt). Hierzulande ist es riskanter, wenn ein Hartz-IVer sich als Job-Muffel outet, der gern in Ruhe gelassen werden möchte, weil er auch ohne “Vermittlung” (Bevormundung) sich sinnvoll beschäftigen kann.

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