Am vergangenen Montag konnte ich mich zum ersten Mal bei Facebook als “safe” markieren. Es ist diese Funktion, die Facebook seit mehr als einem Jahr bei “Großereignissen” mit vielen Todesopfern anbietet. “Ich bin entkommen”, kann man so all seinen Freunden mitteilen.
In den Tagen danach haben viele von Euch, die auch entkommen sind, verschiedene Botschaften gesendet. Eine häufige war dabei, die Terrorgefahr doch einmal “realistischer” zu sehen: Es sterben kaum Menschen an Terror, viel weniger als zB bei Verkehrsunfällen. Daher sei es irrational, sich von Terrornachrichten beeindrucken zu lassen. Am besten sollte man die Terroristen ignorieren, dann erreichen sie nämlich ihr Ziel nicht.
Wer mich kennt, weiß, dass ich ein großer Fan von Rationalität und Nüchternheit bin. Insofern finde ich solche Denkansätze erstmal super. Allerdings sollte man dann auch aufpassen, ob die (angebliche) Rationalität und Nüchternheit nicht einfach den Diskurs beschränkt, und man vielleicht nur unangenehmen Fragen und Schlussfolgerungen ausweichen will.
Um dem zu entgehen, empfehle ich folgenden Lackmustest: Stellt Euch das gleiche Ereignis noch einmal vor, diesmal aber mit ganz anderen Akteuren. Und schaut, wie gut Eure Interpretationen und Argumente dann noch passen.
Stellen wir uns zum Beispiel vor, am vergangenen Montag wäre ein polizeibekannter, bereits unter Beobachtung stehender Neonazi mit einem LKW in eine Flüchtlings-Zeltunterkunft gefahren und hätte dort 11 Refugees überrollt.
Daraufhin hätte ein deutscher Politiker folgendes getwittert:
Stellen wir uns weiter vor, an Refugees würden dann folgende Flyer ausgeteilt (übersetzt in ihre Sprachen natürlich):
An Neonazi-Terroranschlägen auf Flüchtlinge sind bislang kaum Flüchtlinge gestorben, zumindest sicherlich weit weniger als an zB Verkehrsunfällen. Die Gefahr für einen Flüchtling oder sonstigen Migranten, durch Neonazi-Terroristen zu sterben, ist und wäre weiterhin viel geringer, als zB an einem Verkehrsunfall zu sterben.
Wäre es da nicht richtig und hilfreich, Migranten genau dadrauf hinzuweisen? Ihnen klarzumachen, dass sie keine Angst haben müssen? Dass sie weiter in Ruhe einkaufen gehen und Sex haben können? Weil ja die Statistik so eine klare Sprache spricht?
Irgendwie ahne ich aber, dass das nicht passieren würde. Ganz im Gegenteil: Ich glaube, dass diese beiden Tweets einen Sturm der Entrüstung auslösen würden.
Ich glaube zudem, dass man sehr schnell Fragen stellen würde wie:
- Ist die Polizei und ihr (vermeintlich) laxer Umgang mit Neonazis mitschuld?
- Hat die deutsche Mehrheitsgesellschaft ein Klima des Rassismus kultiviert,
dessen Spitze wir hier nun sehen? - Sind es die Toten der AfD?
Alles Fragen der Art, die jetzt – beim islamistischen Terroranschlag – entschieden abgelehnt werden.
Warum also der Unterschied? Für mich deutet das darauf hin, dass es vielen Nüchternheits-Mahnern oft nicht so sehr um Rationalität geht, sondern um die Pflege der eigenen politischen Agenda:
- Können aus der entstandenen Angst politische Maßnahmen entstehen, die mir missfallen, versuche ich die Angst zu bekämpfen, Generalisierungen nicht zuzulassen, die Verantwortung dem “verwirrten Einzeltäter” zuzuschreiben.
- Kann die Angst dagegen helfen, dass politischen Entscheidungen in meinem Sinne getroffen werden, rede ich der Angst das Wort, sehe ein gesamtgesellschaftliches Problem und generalisiere.
Oder um es mit Karl Marx zu sagen: Passt ein Terroranschlag in mein gesellschaftliches Feindbild, wird die Verantwortung dadran sozialisiert – passt er nicht, wird sie privatisiert.
Wie anders der Umgang mit Terror tatsächlich sein kann, konnte man gut bei der Aufdeckung der NSU-Mordserie sehen. Ich erinnere mich da an keinen einzigen Artikeln, der Migranten vorgerechnet hat, wie unwahrscheinlich es doch sei, dass sie durch einen rassistisch motivierten Mord sterben werden. Dagegen gab es viele Artikel, die eine Schuld bei den Polizeibehörden und beim Staat gesehen haben, und selbst hochrangige Politiker sahen das so. Sogar eine Demonstration wurde mit einem Aufruf angemeldet, der ganz klar argumentierte:
Ermöglicht wurde diese Terrorserie durch einen Rassismus, der das Handeln der meisten Menschen in diesem Land, staatlicher Behörden und der Polizei bestimmt. Rund um die Taten des NSU zeigt sich eine arbeitsteilige Verknüpfung von schweigender bis zustimmender Bevölkerung und den mörderischen Aktionen der Neonazis.
Es ist also die Rede von einer breiten Mitverantwortung – etwas, was beim islamistischen Terroranschlag als Instrumentalisierung gebrandmarkt wird.
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Diese selektive Argumentation mag natürlich psychologisch nachvollziehbar sein, führt aber nicht zur Wahrheitsfindung, nämlich der Frage: Gibt es nun tatsächlich gute Gründe, mehr Angst zu haben? Ist es nun richtig, bestimmte Politik zu ändern?
Und beide Fragen haben wahrscheinlich keine endgültige objektive Wahrheit, ihre Antwort hängt sehr davon ab, welche Maßstäbe man ansetzt, welche Werte und Ziele man wie abwägt.
Aber ich will einen Aspekt herausgreifen, der in den “Statistik- und Wahrscheinlichkeitsdebatten” zu kurz kommt: Sterben allein ist nicht das, wovor wir Angst haben. Das Wie und das Warum scheint auch sehr relevant zu sein.
Dazu folgende Testfrage: Stellt Euch vor, ein von Euch geliebter Mensch
- stirbt an einem Verkehrsunfall
- stirbt bei einem Terroranschlag
Wäre Eure emotionale Reaktion in beiden Fällen die gleiche? Immerhin das “Ergebnis” wäre ja das gleiche: Der Mensch wäre nicht mehr da. Seine und Eure Möglichkeiten, mit ihm Glück zu erleben, Erfahrungen zu teilen, einfach Zeit auf dieser Welt zu verbringen – sie wären in beiden Fällen gleichermaßen nicht mehr gegeben.
Dennoch aber vermute ich, dass Euch der Tod durch einen Terroranschlag schlimmer treffen würde. (Zumindest mir ginge es so.)
Es sieht also so aus, dass allein das Zählen von Toten nicht ausreicht, um das Leid zu messen, das wir individuell oder als Gesellschaft empfinden.
Wer mir hier nicht folgen kann, dem möchte ich noch ein weiteres Beispiel
geben (evtl. etwas zu skurril, aber fiel gerade kein besseres ein):
Stellt Euch vor, wir arbeiten zusammen an einer Werkbank. Plötzlich fällt der
Hammer aus meiner Hand auf Deinen Fuß.
- Variante 1: Ich zeige mich tief erschrocken und entschuldige mich mehrfach.
- Variante 2: Ich grinse Dich an und sage unmissverständlich: “Das war
Absicht!”
Auch hier wäre in beiden Fällen der physische Schmerz der gleiche: Der Hammer hätte in beiden Varianten das gleiche Gewicht. Dennoch vermute ich aber, Dein empfundener Schmerz, und insbesondere Deine Verunsicherung im künftigen Umgang mit mir wäre bei Variante 2 ungleich höher.
Es tut offenbar mehr “weh”, wenn ein Tod oder ein Schmerz mit Absicht verursacht wurde. Anders gesagt: Die soziale Botschaft parallel zum Vorfall kann das Leid wesentlich vergrößern.
Un genau genommen ergibt sich aus dieser sozialen Botschaft ja auch eine größere Wahrscheinlichkeit für künftige Fälle:
- Nach einem aus Versehen herunter gefallenem Hammer oder einem Verkehrsunfall kann man immer noch von gewissen Konstanten ausgehen: Die Motorik des Mitarbeiters wird sich nicht plötzlich verändert haben, die Sicherheitsausstattung der Autos ist immer noch die gleiche, das Fahrverhalten der anderen Autofahrer wird durch den Unfall nicht unvorsichtiger (eher vorsichtiger).
- Anders aber beim absichtsvollen Hammerfall oder einen Terroranschlag: Hier gibt es ja kaum Konstanten, die Umstände sind sehr variant: Wenn ich ganz klar die Absicht hatte, dir Schmerzen zuzufügen, dann werde ich das morgen vielleicht noch schlimmer versuchen (wenn mir vielleicht wirkungsvollere Mittel zur Verfügung stehen). Ebenso beim Terroranschlag: Ob einer passiert oder nicht, hängt ja viel weniger von Konstanten wie der Arbeit der Sicherheitsbehörden ab, sondern vielmehr der Entschlossenheit Einzelner ab.
Und die ist hochvariabel. Es wäre zB durchaus möglich, dass ab jetzt jede Woche jemand einen LKW kapert und ihn in eine Menschenmenge fährt, somit sich also die Zahl der Terroropfer binnen kürzester Zeit vervielfachen könnte. Ich sehe aber nicht, wie es möglich wäre, dass sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Verkehrstoten vervielfachen könnte.
Es scheint also tatsächlich rational zu sein, bei der Frage nach der künftigen Gefahrenabschätzung die bisherigen Toten von Terroranschlägen viel stärker zu gewichten als die von Verkehrsunfällen.